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                | Anschriften 
                    Aufschriften Inschriften  |   
                | Erscheinungsdatum: August 2003 |  |  | 
   
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          | Über dieses Heft Liebe Leserin, lieber Leser, Wenn wir den Schreibtisch verlassen, die Haustür 
              schliessen und uns in den öffentlichen Raum begeben, lassen 
              wir die Welt des Geschriebenen, Gelesenen nur scheinbar hinter uns. 
              In Wirklichkeit treten wir in die Sphäre von Texten ein, die 
              uns an etwas erinnern ("Hier stand bis 1856 ein ..."), 
              einen Hinweis geben („Jacob Burckhardt-Strasse“), etwas 
              von uns wollen („Jetzt zugreifen!), uns belehren ("Die 
              Brutvögel an diesem Ufer ..."), mahnen, warnen oder uns 
              etwas verbieten. Diese Texte nehmen wir kaum wahr, lesen sie flüchtig, 
              vergessen sie sogleich wieder. Obwohl – knüpfen sich 
              daran nicht alte Geschichten oder Lebensläufe, verbirgt sich 
              in ihnen nicht auch Unerzähltes? Die vorliegende Nummer des „drehpunkt“ ist diesen Sprachinseln 
              im öffentlichen Alltag gewidmet, sie steht unter dem Thema 
              "Inschriften", wobei Piktogramme nicht mitgemeint sind. 
              Sie werden sehen und lesen: Die Reaktionen der eingeladenen Autorinnen 
              und Autoren sind so verschieden ausgefallen wie die Anstösse 
              im öffentlichen Sprachraum.
 Daneben finden Sie in dieser Nummer neue Lyrik und Prosa sowie ein 
              Dramolett. Und wie immer: Besprechungen von belletristischen Neuerscheinungen. 
              Wobei Elsbeth Pulvers Besprechung von "Schweben", dem 
              jüngsten und letzten Roman von Hans Boesch, unversehens zum 
              Nachruf geworden ist. Am 21. Juni ist Hans Boesch, der so überaus 
              freundliche und genaue Erzähler, in Stäfa nach langer 
              Krankheit gestorben.
 Wir danken allen, die an dieser Nummer mitgearbeitet haben,
 und wünschen Ihnen eine vergnügliche Lektüre
 Rudolf Bussmann und Martin Zingg
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          | Martin Zingg
 Fisimatenten
 
               
                | Aufräumen! Die Welt muss 
                    immer wieder mal aufgeräumt werden, sie hat es bitter 
                    nötig. Es sammelt sich ja so vieles an, das ganz einfach 
                    nicht hierher gehört. Weggeräumt gehören beispielsweise 
                    die Gefahren, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind, 
                    da zeigen wir uns nicht abgeneigt. Und auch hierzu macht die, 
                    wie sie neuerdings immer öfter genannt wird, "letzte 
                    noch verbliebene Weltmacht" ihre Vorschläge. Sie 
                    denken, weil Sie an die USA denken, natürlich sofort 
                    an Filme und Videospiele mit brutalen Gewalt- und/oder Sex-Szenen. 
                    An Bilder also, die den Umgang mit Gewalt als den normalen 
                    Weg zur Lösung von Konflikten vorschlagen. Zugegeben, das mit den brutalen Gewaltszenen im Kinderzimmer 
                    ist schlimm genug, auch wenn es meist bloss fiktive Tote sind, 
                    aber viel störender ist es doch, wenn in einem Schulbuch 
                    eine Geschichte über Delphine steht. Denn: Kinder aus 
                    den Bergen oder aus der Prärie werden durch eine solche 
                    Geschichte unglaublich benachteiligt, da sie keine eigenen 
                    Erfahrungen mit Delphinen machen können. An Waffen, ob 
                    echt oder bloss simuliert, kommen schliesslich alle ran. Aber 
                    an Delphine? Und was halten Sie von Geschichten mit Dinosauriern? 
                    Bitte, hat es die denn wirklich mal gegeben, sind Sie diesen 
                    Monstern bei der Lektüre der Schöpfungsgeschichte 
                    je mal begegnet? Eben nicht. Dachten wir uns doch. Vielleicht 
                    haben Sie aber mal in der Jugend eine Fabel gelesen, in welcher 
                    eine eitle, weibliche Krähe von einem schlauen, männlichen 
                    Fuchs erst über alle Massen gepriesen und anschliessend 
                    überredet wird, ihren Käse fallen zu lassen. Von 
                    Aesop oder von Lafontaine. Sowas sollten Sie nie mehr lesen, 
                    diese Fabel ist sexistisch. Ein Märchen wie "Aschenputtel" 
                    ist sexistisch, das scheint nach allem nicht zu erstaunen, 
                    und dass Harry Potter des (nicht beim Namen genannten) Teufels 
                    ist, ist wohl klar.
 In ihrem Buch "The Language Police", dem die oben 
                    erwähnten Beispiele entstammen, dokumentiert die amerikanische 
                    Historikerin und Erzieherin Diane Ravitch die Exzesse politischer 
                    Korrektheit und des fundamentalistisch-christlichen Bekennertums 
                    – und damit einen Prozess schleichender Sprachreglementierung 
                    in den Vereinigten Staaten. Der Angriff gilt nicht nur den 
                    Schulbüchern, er zielt auch auf Bibliotheken. Inzwischen 
                    haben die Sprachpolizisten, die in vielen Bundesstaaten über 
                    die Zulassung von Schulbüchern befinden dürfen, 
                    ganz neue Problemfälle ausfindig gemacht. "Schneemann" 
                    beispielsweise ist sexistisch, Lösungsvorschlag: "Schneeperson". 
                    "Adam und Eva" ersetzen wir durch "Eva und 
                    Adam" und zeigen damit, dass Männer Frauen nicht 
                    beherrschen. "Cowboy" oder "Cowgirl"? 
                    Zweimal sexistisch. Ersatz: "Cowhand". Und wenn 
                    wir von "Eskimos" reden, sollten wir nicht den Sammelnamen 
                    gebrauchen, sondern sie "Inupiak" oder "Yupit" 
                    nennen, je nach Stamm. Wobei auch "Stamm" ein arroganter, 
                    westlicher Begriff ist, den der Weisse Mann für Eingeborene 
                    in ihren Hütten gebraucht. Und sowieso muss "Hütte", 
                    das ist Vorschrift, durch "kleines Haus" ersetzt 
                    werden.
 Natürlich möchte man solche Skurrilitäten mit 
                    einer kleinen Handbewegung wegfächeln. Aber seit uns 
                    immer öfter mitgeteilt wird, dass so manches, was für 
                    die Vereinigten Staaten (281 Millionen Einwohner) angeblich 
                    gut ist, es auch für die restliche Welt (7 oder 8 Milliarden 
                    Einwohner) ist, haben Berichte über solche Skurrilitäten 
                    einen seltsamen Beigeschmack.
 Martin Zingg 
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          | Zsuzsanna Gahse
 Sowiesowieso
 
               
                | Mitte November kam das Kündigungsschreiben 
                  meiner Firma; aus Rationalisierungsgründen müsse man 
                  in der Abteilung vier Mitarbeiter entlassen, hiess es da, und 
                  ich versuchte, nicht zu gründlich über diesen Brief 
                  nachzudenken, denn ich hatte gerade eine Lungenentzündung 
                  hinter mir und sollte möglichst viel ruhen, folglich hatte 
                  ich die Vorschriften, nicht zu arbeiten, mich zu erholen und 
                  nicht zu grübeln. Mit hochgelegten Beinen war ich dabei, wirklich nichts zu denken, 
                  als mir ein Lied einfiel, und ich sang es etwa eine halbe Stunde 
                  lang, dann fiel mir noch ein Lied ein, und hinter dem zweiten 
                  Lied lauerte eine weitere Melodie und noch eine, nacheinander 
                  stiegen sie mir aus dem Kopf herab wie Flugzeuge auf wichtigen 
                  Flughäfen in einer sichtbaren Reihe auf einer bestimmten 
                  Linie nacheinander landen, Bonny and Clyde, they lived a lot 
                  together, Baker man is bakin’ bread, the night train is 
                  comin’ , Amor, amor, amor, dies kleine Wort, sagt dir 
                  sofort, dass ich dich liebe. Tagelang dauerten die Einfälle 
                  an, nach einer Woche wusste ich mir nicht anders zu helfen, 
                  als die Titel oder die Anfangszeilen der Lieder aufzuschreiben, 
                  nach zwei Wochen hatte ich bereits dreihundert Titel auf meiner 
                  Liste, so dass ich sie alphabetisch ordnen musste, um noch eine 
                  Übersicht zu haben, aber ein Ende der Musik im Kopf war 
                  nicht abzusehen.
 Es ist nicht gut gesagt, dass sie mir aus dem Kopf einfielen, 
                  eher waren sie innerhalb des Kopfes verrutscht, von weit hinten 
                  nach vorne, sie rutschten aus einem sonst unbemerkten Speicher 
                  heraus, und ich konnte sie nicht wieder wegstecken, musste sie 
                  der Reihe nach vornehmen, anschauen, durchsingen, Ich will keine 
                  Schokolade, ich will lieber einen Mann, My baby just cares for 
                  me, Auf du junger Wandersmann, What do you get if you fall in 
                  love. Ein Lied konnte ich nur zum Schweigen bringen, indem ich 
                  das nächste fand. Oder ich muss es anders sagen, denn die 
                  meisten kamen paarweise oder sogar zu dritt, ich weiss nicht, 
                  nach welcher Ordnung, beziehungsweise würde mich gerade 
                  das interessieren, inwiefern und warum sie zusammengehörten. 
                  Viele von ihnen lagen wahrscheinlich nach Wörtern gespeichert, 
                  auf Ananas, kauft Ananas bei mir folgte Schoko, Schoko, Schokolata, 
                  oh Signore bitte, kaufen Sie Ihrer Gattin Schoko, Schoko… 
                  und danach folgten die Bananen-Gesänge, andere Früchte 
                  mehr und gleich darauf der griechische Wein, und weil Griechenland 
                  nicht ohne das Meer zu denken ist, kamen die Lieder mit allen 
                  Meeren und Ozeanen dran, zum Beispiel Sixteen Tons, oder auf 
                  Deutsch: Mit vierzehn Jahren fing ich als Schiffsjunge an. Auf 
                  Englisch klingt das Stück besser, aber selbst in der Übersetzung 
                  gefällt es mir, während mir sonst meist die grässlichsten 
                  Schlager eingefallen sind.
 Wenn ich mich zwischendurch an den Tisch setzte und über 
                  eine sachliche Angelegenheit nachzudenken begann, rückten 
                  die Lieder in die Ferne, wobei ich mir den Kopf vor allem über 
                  die verlorene Arbeit und den neuen Job zerbrach, ich überlegte, 
                  welche Firmen zur Zeit nicht rationalisieren und mich anstellen 
                  könnten, ich begann zu telefonieren, bekam auch einige 
                  interessante Auskünfte, ich kam voran, allerdings wurde 
                  ich, während ich jeweils weiterverbunden wurde, selbst 
                  am Telefon mit Musik bedient, und war die Musik zu Ende, hörte 
                  ich mir die Erklärungen der Personalleute an, ihre Versprechungen, 
                  kleine Ausflüchte, und dabei überlegte ich, was für 
                  ein Job ich überhaupt brauchte, was ich wirklich brauchte. 
                  All you need is love, pa pa rapapam, fiel mir ein, denn im Hintergrund 
                  lauerte die Musik auch dann, wenn ich sozusagen nachdachte, 
                  das werde ich einem Neurologen darstellen müssen, ein unterschwelliges 
                  Kopflärmen war in meinem Kopf immer vorhanden, es lief 
                  ein Musikprogramm ab, Am goldenen Fluss lege ich mich nieder, 
                  Diese Stiefel sind zum Laufen gemacht, Armer Tom Dooly, du musst 
                  sterben, lass den Kopf hängen, ich habe den Sherif erschossen, 
                  vorbei ist es mit dem Sommerwein. Na ja, die Werbung weiss über 
                  solche Vorgänge längst Bescheid, sie rechnet damit, 
                  dass man in die Musik wie in Sumpf versinken kann, ihr ist es 
                  gleichgültig, welche Produkte sie anbietet, Hauptsache, 
                  die Begleitmelodien haften gut, und die haften, und vor den 
                  Fachleuten der Werbung haben das andere schon gewusst, sonst 
                  gäbe es keine Marschlieder, die auch nichts anderes wollen, 
                  als im Kopf etwas umzuschalten, damit man gut marschieren kann.
 Als ich also im Bett herumlag und schon mehr als vierhundert 
                  Titel beisammen hatte, und mich etwas bleich darüber wunderte, 
                  dass wirklich erst die schlechteren und hernach erst die besseren 
                  Hits zum Vorschein kamen, und während ich immer noch mit 
                  Vocalgesang beschäftigt war, denn wie hätte ich denn 
                  die instrumentalen Stücke in meine alphabetische Liste 
                  aufnehmen können, und da ich sie nicht aufzunehmen plante, 
                  fielen sie mir auch nicht ein, was auch sehr merkwürdig 
                  ist, als ich also mehr als vierhundert Titel beisammen hatte, 
                  sah ich erst, wie viele Lieder mit Frauennamen zu tun hatten, 
                  sogar mit Frauennamen begannen, bestimmt ging es um verspätete 
                  Minnelieder. Hey Marylou, sieh mal an, dein Kleid ist schick 
                  und schick sind deine Schuh, Hey Missis Robinson, Matilda, Matilda, 
                  I gave you money. Heute mal ich dir ein Bild, Cindy Lou, Marina, 
                  Marina. Ich glaube, diese Art Texte gibt es im Augenblick weniger, 
                  vielleicht ist eine Minnegesangspause eingetreten, aus ist es 
                  mit den winzigen Einblicken in Liebesgeschichten um Juanita 
                  und Anita, aber um Geschichten geht es nach wie vor, die schon 
                  mit zwei oder drei Wörtern wirksam werden, nur haben die 
                  Wörter Widerhaken, mit denen sie sich im Kopf festhaken, 
                  irgendwo im Hinterkopf, sie klammern sich fest, bedrängen 
                  sich gegenseitig und warten auf den Augenblick einer kurzen 
                  Schwäche, einer kurzen instabilen Situation, um hintereinander 
                  vorzubrechen und alles Denken zu überfluten.
 Nach fünf Wochen hatte ich ein Surren im Kopf, sowiesowieso, 
                  man kann es kaum verstehen, so irgendwie heisst auch ein Lied, 
                  und so surrte es. Nach sechs Wochen gab es in meiner Liste siebenhundertzweiunddreissig 
                  Eintragungen, was schon deshalb interessant ist, weil ich oft 
                  gehört habe, dass viele Menschen in ihrer Muttersprache 
                  mit einem Wortschatz von etwa eintausend Wörtern auskommen, 
                  dann wären die Anzahl der singbaren Lieder und die Anzahl 
                  der Wörter vergleichbar, aber die Wirkung der Lieder und 
                  der Wörter ist nicht vergleichbar. Es gibt eine Diktatur 
                  der Liederattacken, die nicht erholsam ist, bei der ich zumindest 
                  nicht gesund werden kann. Inzwischen bin ich selbst beim Telefonieren 
                  unsicher geworden, und sobald ich merke, dass mein Kopf wieder 
                  zu lärmen beginnt, sage ich, falsch verbunden!, falsch 
                  verbunden und lege auf. Ich treffe kaum noch jemanden, ich wüsste 
                  ja nicht, worüber ich sprechen sollte. Am Abend lache ich 
                  für mich allein, und dann löse ich wieder Kreuzworträtsel, 
                  die ganze Nacht, die ganze Nacht, Liebesgott mit vier Buchstaben, 
                  Amor, Amor, Amo-o-or!
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          | Jochen Schimmang
 Kopf nach unten!
 
               
                | Notizen zu einer Inschrift auf Bodenniveau Vor einigen Jahren bin ich, nach einem dreissigjährigen 
                    Ausflug in die Welt, zurückgekehrt in die Stadt meiner 
                    Jugend, im äussersten Nordwesten von Deutschland und 
                    nah an der niederländischen Grenze, und habe mich dort 
                    angesiedelt. Anders als damals laufen heute fast ganzjährig 
                    die Touristenscharen durch die Strassen, die zum Teil in Bussen, 
                    zum Teil individuell mit dem Zug oder Auto hier ankommen. 
                    Reisen Sie mit dem Auto an, gibt ihnen schon kurz vor jeder 
                    der drei Autobahnabfahrten das Schild Leer / Historische Altstadt 
                    die Richtung an. Durch diese historische Altstadt, in der 
                    ich wohne, laufen sie dann meist mit spürbarem Entzücken, 
                    wenn das Wetter nicht gar zu schlecht ist. Ihre Blicke richten 
                    sich verständlicherweise auf die Häuser und weiter 
                    nach oben, auf die mannigfachen Giebel und die Inschriften, 
                    die dort teilweise zu finden sind. Eine etwa informiert über 
                    das älteste noch erhaltene Haus der Stadt, gebaut 1572, 
                    ein anderes besagt, dass es die Weinhandlung Wolff seit 1800 
                    gibt. An einem anderen Haus kann der lateinkundige Tourist 
                    dessen wechselhafte Geschichte (einschliesslich eines Brandes) 
                    nachlesen, die dort eingemeisselt ist. Das alles ist um so 
                    entzückender, als diese Altstadt der Gefahr entronnen 
                    ist, eine Puppenstube oder ein Freilichtmuseum zu werden, 
                    sondern ein lebendes, gut funktionierendes Viertel darstellt. 
                    Der Besucher kommt also kaum dazu, seinen Blick einmal zu 
                    senken, wenn er von den Schönheiten des Viertels nichts 
                    verpassen will. Dabei hört die Schrift in unserer Stadt 
                    nicht in Augenhöhe auf. An bestimmten Stellen der Altstadt 
                    findet sich im Klinkerstein des Pflasters etwa folgender kurzer 
                    Hinweis eingeritzt: 1967 Geplante Westtangente, anderswo auch 
                    genauer 1967 Geplante Westtangente Östlicher Strassenrand. 
                    Hinter dem eleganten Namen Westtangente verbarg sich zuallererst 
                    die Abrissbirne. Ein erheblicher Teil der wunderschönen 
                    Altstadt, derentwegen die Besucher zu uns kommen, sollte in 
                    jenen späten sechziger und frühen siebziger Jahren 
                    abgerissen werden, um einer breiten Durchgangsstrasse mitten 
                    durch eben diese Altstadt Platz zu machen. Jenseits davon 
                    sollten Neubauten mit einem höheren Traufenniveau entstehen.
 Zum Glück brauchen behördliche Planungen immer etwas 
                    länger, und zum Glück können sie nicht ganz 
                    und gar unter Verschluss gehalten werden. Das haben die damaligen 
                    Stadtväter auch keineswegs versucht. Sie waren schliesslich 
                    davon überzeugt, planerisch weitblickend der Stadt etwas 
                    Gutes zu tun und dachten damit ganz im Geist der Zeit.
 Die sechziger Jahre! Ich denke noch immer liebevoll an sie, 
                    denn sie waren das Jahrzehnt meiner frühen Jugend. Sie 
                    haben uns die Beatles gebracht und die französische Neue 
                    Welle, Rudi Dutschke und die Pop Art, den Minirock und den 
                    Strukturalismus, Swinging London und den Pariser Mai. Mein 
                    Gedächtnis täuscht mich jedoch immer wieder darüber 
                    hinweg, dass sie uns auch sehr viel Plastik gebracht haben, 
                    und wenn ich schon daran denke, will mir scheinen, dass Plastik 
                    damals wenigstens schöner war als heute. Das Jahrzehnt 
                    der grossen Erneuerung war naturgemäss auch eins der 
                    grossen Zerstörung, aber als Genosse des damaligen Zeitgeistes, 
                    und als Jugendlicher dazu, schreckte mich die Zerstörung 
                    nicht. Ich nahm sie einfach nicht wahr.
 Die Zerstörung in der Stadt meiner Jugend, die weitgehend 
                    in den Planungen stecken blieb, ging ganz und gar an meinem 
                    Bewusstsein vorbei. Die heute wunderschöne Altstadt war 
                    damals eher ein Viertel für die sozial Schwachen, zu 
                    denen meine Familie nicht gehörte, und ich kannte sie 
                    kaum. Von ihrem geplanten Abriss hatte ich nichts gehört, 
                    und er hätte mich auch nicht interessiert. Im Frühjahr 
                    1969 verliess ich meine Stadt dann ganz, um in Westberlin 
                    zu studieren. Die Schreckensgeschichte also, von der die Schrift 
                    im Strassenpflaster zeugt, ist für mich persönlich 
                    erst später Schreckensgeschichte geworden. Sie funktioniert 
                    nach dem Modell des Reiters über den Bodensee. Was alles 
                    hätte passieren können, erfuhr ich erst bei gelegentlichen 
                    Besuchen in den achtziger Jahren, und es erschreckt mich heute 
                    um so nachhaltiger, je länger ich darüber nachdenke. 
                    Einiges ist auch passiert: so sind die Weberhäuser abgerissen 
                    worden, die davon zeugten, dass die Stadt lange Zeit hauptsächlich 
                    von der Leinenweberei lebte, bevor die niederländische 
                    Konkurrenz aufgrund fortgeschrittener Produktionsverhältnisse 
                    und -methoden siegte.
 Dann jedoch – während ich in Berlin in ganz andere, 
                    ungleich abstraktere Kämpfe verwickelt war – regte 
                    sich der Widerstand, so wie etwa zur gleichen Zeit im Frankfurter 
                    Westend der sogenannte Häuserkampf tobte: nur dass es 
                    in Leer/Ostfriesland um viel ältere Häuser ging 
                    als am Main. Der Widerstand wurde auch nicht von revoltierenden 
                    Studenten und Hausbesetzern getragen, die es hier gar nicht 
                    geben konnte, sondern unter anderem von durchaus gut situierten 
                    Bürgern der alten Handelsstadt, die dem Begriff der Bürgerinitiative 
                    im Wortsinn sehr viel mehr entsprachen als der klassische 
                    Typus des Hausbesetzers. In der offiziellen Sprachregelung 
                    heisst es heute gern, etwa ab 1973/74 habe in der Stadtverwaltung 
                    »ein Umdenken eingesetzt«. Dieses Umdenken mag 
                    dem Druck durch die Bürger ebenso geschuldet sein wie 
                    der Tatsache, dass etwa zur selben Zeit erhebliche Mittel 
                    der Europäischen Gemeinschaft für die Sanierung 
                    und Erhaltung alter Viertel flossen, während es in den 
                    Jahren davor Gelder vor allem für den Ausbau von Verkehrswegen 
                    gegeben hatte, also für die Öffnung und Vernichtung 
                    von Räumen.
 Der wundersame Rettungs- und Verschönerungsprozess des 
                    Viertels, der uns heute jährlich so viele Besucher einträgt, 
                    führte schliesslich dazu, dass ich bei meinen gelegentlichen 
                    Besuchen in der Stadt die Altstadt buchstäblich erstmals 
                    entdeckte, während sie in der Zeit, als ich hier zur 
                    Schule gegangen war, im grossen und ganzen ein Gerücht 
                    für mich blieb. Er führte sogar dazu, dass ich mir 
                    sagte: »Wenn ich jemals wieder hierhin zurückkehren 
                    sollte, dann möchte ich nur in diesem Viertel wohnen.«
 So ist es dann auch gekommen.
 Meine nachträgliche Schreckensgeschichte aber hat noch 
                    einen sehr viel persönlicheren Akzent. In den sechziger 
                    Jahren, als die Planungen zur Vernichtung der Altstadt begannen, 
                    war mein Vater in dieser Stadt nicht nur Stadtkämmerer, 
                    sondern auch stellvertretender Stadtdirektor, also der zweite 
                    Mann in der Verwaltung. Ich kann ihn schon lange nicht mehr 
                    fragen, wieviel er davon gewusst hat. Natürlich hat er 
                    davon gewusst; interessanter aber wäre die Frage, wie 
                    weit er diese Planungen unterstützt oder dagegen opponiert 
                    hat. Denn um Vernichtung ging es ja tatsächlich, auch 
                    wenn die Stadtväter – ja doch, es waren Väter, 
                    die Stadtmütter hatten bestenfalls die Position einer 
                    Chefsekretärin – ein so belastetes Wort weit von 
                    sich gewiesen hätten. Es ging sogar um Existenzfragen, 
                    in dem Sinne des überwältigend schönen und 
                    klaren Satzes von Robert Walser: »Wenn alles neu ist, 
                    möchte ich nicht mehr leben.«
 Es ist klar, dass die Frage nach der Schuld oder Mitschuld 
                    meines Vaters, bezogen auf die geplante Vernichtung eines 
                    ganzen Viertels, des schönsten Viertels in der Stadt 
                    – dass diese Frage exakt nach dem Modell aller Deutschen 
                    meiner Generation an ihre Eltern gebildet ist: Was habt ihr 
                    gewusst? Was habt ihr dagegen getan? Oder habt ihr mitgemacht? 
                    Mit einem Wort, beim Blick auf die Inschriften im Pflaster 
                    unserer Altstadt frage ich mich manchmal, was ich mich in 
                    Hinsicht auf die Hitlerzeit nie gefragt habe: War mein Vater 
                    vielleicht ein böser Mann? Oder war er ein stiller Held 
                    des Widerstands? Oder ein Mitläufer?
 Diese Fragen sind gewiss alle um so blödsinniger, als 
                    ich selber schliesslich von meiner eigenen Stadt keine Ahnung 
                    hatte und mich schon in meinen letzten Jahren hier eher um 
                    den Spätkapitalismus und die Dritte Welt kümmerte, 
                    wogegen ja auch nichts einzuwenden ist. Ich weiss, ich kann 
                    nicht posthum auf meinen Vater zeigen und sagen: »Du 
                    hättest Widerstand leisten müssen.« Das wäre 
                    wohl eher mein eigener Job gewesen.
 Was man am Ende noch lernen kann aus dieser Geschichte, das 
                    betrifft gleichsam die verschiedenen Körperhaltungen 
                    der Aufmerksamkeit. Ganz bestimmt ist es nötig und legitim, 
                    mit erhobenem Kopf durch die Welt zu gehen und den Blick auf 
                    ihre Herrlichkeiten zu richten. Nicht umsonst aber haben die 
                    Stadtväter hier die Erinnerung an die Schmach, der sie 
                    knapp entgangen sind, ins Pflaster versenkt, denn dort wird 
                    sie kaum jemand entdecken. Um also den Subtext der Verhältnisse 
                    lesen zu können, empfiehlt es sich, hier wie anderswo, 
                    zuweilen die Nase nah am Boden zu haben, dem Beispiel unseres 
                    Hundes auf unermüdlicher Spurensuche folgend. Ohne ihn 
                    hätte ich die Schrift im Pflaster vielleicht nie entdeckt.
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          | Eine Nacht im Leben von ... 
 Christoph Simon
 
               
                | Ich schrieb ein Buch: "Wohngemeinschaft oder Niemand 
                    wird je aufhören, dir wehzutun". Was meine WG-Kollegen 
                    veranlasste, auszuziehen, Fernseher, Minibar und Freundeskreis 
                    mitzunehmen und mich in drei leeren Zimmern(achtzig Quadratmeter mitten in der Stadt, Parterre, kleine 
                    Küche, kleiner Balkon) zurückzulassen. Wochenlang 
                    verschwendete ich die anfallenden Tantiemen für ein einsames 
                    Leben, schloss mich im Zimmer ein, lag auf dem
 Bett, Schokolade essend, Novellen lesend, soziale Geräusche 
                    von den Wohnungen über mir her.
 Eines Abends wurde mir langweilig. Auf der Suche nach einer 
                    sinnvollen Abendbeschäftigung besuchte ich meine Nachbarn 
                    - und stiess auf Tierhalter... "Harry hat sich eine chinesische 
                    Zwergwachtel gekauft", sagt Frau Wenk von
 nebenan.
 "So?" sage ich, blicke zu Herrn Wenk. Herr Wenk 
                    deutet mit dem Kopf auf den Käfig beim Fenster, über 
                    den ein
 schwarzes Tuch gebreitet ist. "Sie wollen sie sehen, 
                    ja?" Ich folge den beiden zum Käfig, Herr Wenk zieht 
                    das Tuch weg. "Da", sagt er. Ich sehe mir die Wachtel 
                    an. Ein faustgrosses Tier, das stumpfsinnig vor der Bademöglichkeit 
                    im Sand steht und den grauen Kopf nicht stillhalten kann.
 "Was kostet der Spass?" frage ich.
 Wenks lächeln bedeutungsvoll.
 "Kommen Sie schon, wieviel?" Ich klimpere an den 
                    Gitterstäben. Die Wachtel hüpft.
 Frau Wenk im Plauderton: "Sie sind ein Stubenvogel-Mann 
                    wie Harry, nicht
 wahr?"
 "Mehr oder weniger."
 "Was für Tiere lieben denn Dichter wie Sie?"
 "Katzen", sage ich.
 Langes Schweigen, bis Herr Wenk den Käfig wieder zudeckt. 
                    "Ein ehrlicher Mann. Legt die Karten auf den Tisch. Gefällt 
                    mir."
 Frau Sommer vom zweiten Stock hält sich Mauereidechsen 
                    in einer hohen Holzkiste: Glatt gehobelt, an den Kanten versteift 
                    und mit Drahtgaze verschlossen. Frau Sommer will wirklich 
                    nicht, dass jemand abhaut. "Ich weiss nicht, wie ich 
                    Œs nett oder höflich sagen kann", sage ich, 
                    während ich die von einer Terrasollampe beschienenen 
                    Eidechsen in der Kiste - im Kies, auf dem Kletterast, auf 
                    dem Stein - zähle. "Was liegt ihnen an dem Kriechzeug?" 
                    Ich zähle fünf olivgrün gefärbte, mit 
                    einem Gitterwerk feinerFlecken besetzte Widerlinge.
 "Sie mögen keine Reptilien, richtig?"
 "Weder Fisch noch Fleisch."
 "Wer sich Echsen hält und die Geduld mitbringt, 
                    sie zu beobachten, wird viel
 erzählen können."
 "Sie sonnen sich, ihr Dung riecht scharf."
 "Sie legen Reviere an und bekämpfen sich. Ihr Verhalten 
                    macht sie zu sehr
 interessanten Tieren."
 Ich zucke mit den Schultern.
 "Sie mögen überhaupt keine Tiere", sagt 
                    Frau Sommer.
 "Tiere können Bissverletzungen zufügen", 
                    sage ich. "Durch Erschrecken Personenschaden verursachen 
                    oder Verkehrsunfälle herbeiführen."
 "Man muss Tiere als Art Geschwister ansehen", meint 
                    Frau Sommer ehrlich (meine Nachbarschaft findet es langweilig, 
                    sich über Tiere lustig zu machen), "Geschwister, 
                    die sich nicht grundsätzlich von uns unterscheiden.
 Sie tragen Organe wie wir, paaren sich, werden krank und sterben 
                    wie wir."
 "Sind Fische dumm?"Meine Frage weckt Sebastian (Mansarde im vierten) aus seinen 
                    Träumen. Wir stehen vor seinem Aquarium - ein kleines 
                    Becken mit Luftpumpe, Stabheizer, Bausand, Wasserpflanzen 
                    - und ein paar bunten tropischen Süsswasserfischen, die 
                    dem Schönheitsbedürfnis des Aquarianers entgegenkommen.
 "Fische gehören zu den ältesten Lebewesen der 
                    Erde", antwortet Sebastian.
 "Sie atmen durch Kiemen und schwimmen mit Flossen. Sie 
                    haben erreicht, was
 sie erreichen konnten."
 Um Mitternacht war ich zurück in meiner Wohnung. Stellte 
                    ein Goldfischglasauf den Wohnzimmerboden, legte mich davor, Schokolade essend, 
                    eine Novelle
 vorlesend. Ein Goldfischglas, in dem ein einsamer Bruder seine 
                    Kreise zog...
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