Nummer 121 Zurück zum Archiv

Unterwegs Zuhause Im Kopf
Texte übers Reisen

Erscheinungsdatum: April 2005

Auszüge:
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Heft
Rudolf Bussmann: Fisimatenten
Andreas Münzner: Firewire
Eine Nacht im Leben von Ursula Krechel
Werner Morlang über Paul Nizon
 
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Inhaltsverzeichnis

(Unterstrichene Texte können angewählt werden)

Über dieses Heft
Rudolf Bussmann: Fisimatenten
Unterwegs Zuhause Im Kopf. Texte übers Reisen

Andreas Münzer
Brigit Kempker
Silvio Huonder
Yoko Tawada
Gabrielle Alioth

Eine Nacht im Leben von Ursula Krechel

Besprechungen und Hinweise
Markus Bundi über Alain Claude Sulzer
Christoph Wegmann über Markus Ramseier
Werner Morlang über Paul Nizon
Elisabeth Pulver über Kuno Raeber
Martin Zingg über das Eine & versetzte Lettern
Neuerscheinungen
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
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Über dieses Heft

Liebe Leserin, lieber Leser,

Zu Hause bleiben ist bekanntlich auch nicht schlecht, bisweilen sogar ratsam, aber manchmal ist Reisen einfach besser. Oder unumgänglich. Und oft ist man dazwischen, zwischen Hiersein
und Weggehen, mitten im Aufbruch.
In unserer jüngsten Nummer, die Sie in Händen halten, präsentieren wir Texte über den Moment vor dem Aufbruch. Über das gedankliche Packen, über die Reisevorbereitungen, über die Reise, die gleichsam im Kopf stattfindet und der wirklichen Reise vorausgeht oder diese dann doch ersetzt. Reiseberichte im klassischen Sinne werden Sie also nicht lesen können, wohl aber Berichte über virtuelle Reisen und über die Vorbereitung zur Reise. So vertrackt, wie Reisen mitunter verlaufen können, sind bisweilen auch die Momente davor.
Wir haben für diese Nummer einige reiseerfahrene Autorinnen und Autoren eingeladen: Gabrielle Alioth, Silvio Huonder, Birgit Kempker, Andreas Münzner und Yoko Tawada. Ursula Krechel erzählt aus einer Nacht in ihrem Leben. Und die Fotografin Nelly Rau-Häring, auch sie eine Reiseerfahrene, steuert zu dieser Nummer eine Auswahl ihrer Arbeiten bei. Wie immer weisen wir Sie auf einige Neuerscheinungen hin, mit Rezensionen und mit unserer Liste, die sich übrigens grosser Beachtung erfreut.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und nicht nachlassende
Reiselust

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

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Rudolf Bussmann

Fisimatenten

Auch Sie gehören dazu. Gewiss gehören Sie dazu. Wer liest, schreibt. Jede Leserin, jeder Leser kennt den Impuls, zu Papier und Stift zu greifen oder sich an den Laptop zu setzen. Oft genug bleibt es beim Wunsch, oder das Geschriebene landet im Papierkorb. Das könnte sich ändern. Der Papierkorb ist die zweitbeste Lösung. Die beste ist die, jemanden zu finden, der sich des Geschriebenen annimmt. Der daraus ein valables Manuskript macht. Der für Ihr Werk einen Verlag sucht.
Für derartige Dienste stehen Ihnen im deutschsprachigen Raum über hundert Agenturen zur Verfügung. Agenturen, die seriös und transparent arbeiten: Nach erfolgter Vermittlung sind sie mit 10-15% an Ihrem Autorenhonorar beteiligt. Eine allseitig befriedigende Situation: Sie kommen zu einer Publikationsmöglichkeit, die Agentur kommt zu Geld, der Verlag zu einer Autorin.
Um zu überleben, ist ein Vermittler auf Texte angewiesen, die eine gewisse Auflagenhöhe erwarten lassen. Manuskripte von Debütantinnen sind nicht besonders gefragt. Doch verzweifeln Sie nicht. Es gibt Agenturen, die gerade Schreibenden wie Ihnen mit einem individuellen Service zur Hand sind. Dass Sie zum voraus einen Betrag für Porto und Kopien hinlegen müssen, soll Sie ebenso wenig stören wie eine etwas angehobene Provision von 15–30% Ihres allfälligen Verlagshonorars. Wichtig ist erst einmal, dass Ihnen ein Gutachten in Aussicht gestellt wird, das abwägt, ob Ihr Text von der Agentur überhaupt angenommen werden kann. Betrachten Sie das dafür anfallende Honorar von 100 bis 500 Euro als Obolus, der Sie in die engere Wahl bringt.
Wenn Sie Glück haben – und Sie haben Glück! – bietet man Ihnen einen Betreuungsvertrag an. Lassen Sie sich durch die Summe von 300 Euro nicht abschrecken. Denn jetzt bekommen Sie Zugang zu einem zuverlässigen Lektorat. Für den Preis von bescheidenen zehn bis dreissig Euro pro Seite können Sie aus dem – wie Ihnen langsam dämmert – unbrauchbaren Manuskript
eines machen lassen, das alle Chancen hat auf dem Markt zu bestehen. Auf Wunsch wird Ihnen sogar eine Abschrift mit professionellem Outfit erstellt, zwei Ausdrucke für einen Seitenpreis
von wenigen Euro. Das Glück steht weiterhin auf Ihrer Seite: Ihr Agent wird fündig. Er vermittelt Ihnen einen Verlag, der Ihr Buch ohne Wenn und Aber publiziert. An diesem Wendepunkt empfiehlt es sich, das Kleingedruckte zu beachten. Es kann sein, dass der Ihnen vorgelegte Verlagsvertrag vorsieht, dass Sie selber die Druckkosten zu tragen haben. Oder dass Sie dem Verlag die gesamte Auflage abkaufen müssen. Das geht Ihnen nun doch zu weit. Die Vorstellung, den Keller mit eigenen Büchern füllen zu müssen, von deren Existenz kein Buchhändler und kein Kunde je erfahren wird, beschert Ihnen schlaflose Nächte. Wohin mit dem Wein auf den Gestellen? Wohin mit Schlitten, Winterkleidern und den zwei Matratzen? Sie weigern sich den Vertrag zu unterschreiben. Und wiederum haben Sie Glück. Denn es stellt sich heraus, dass Ihr Agent das Manuskript an keinen andern Verlag vermitteln kann. Wunderbar! Sie sind mit einem Schlag alle Alpträume los, können in Ihrer Wohnung durchatmen, sparen eine Menge zusätzliches Geld, brauchen nichts von einem wie immer gearteten Autorenhonorar an den Agenten abzutreten und haben obendrein ein schön gestaltetes Manuskript auf dem Tisch. Ihr Geist ist frei für ein neues Projekt. Den Titel wissen Sie schon. Wäre der Roman nur schon geschrieben!
Das trifft sich. Denn zufälligerweise gehen wir eben daran, eine Agentur zu gründen, die für Sie wie gemacht ist. Sie bringen den Titel, wir verfassen den zugehörigen Roman. Über die Details reden wir noch. Im Angebot inbegriffen ist eine Leistung, die Ihnen sonst niemand bietet: Wir garantieren Ihnen, dass Ihr Werk auch gelesen wird! Ein sehr exklusiver Service, wie Sie zugeben werden. Wir kennen tatsächlich Leser, die neugierig sind auf Ihr Buch. Zumindest einen. Richtig – Sie selbst!

Rudolf Bussmann


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Andreas Münzner

Firenze

Wie Adrian Stoller darauf wartete, dass Rina, die er im Urlaub kennen gelernt hatte, ihn bei sich zuhause mit ihrem Auto abholen würde, um mit ihr zusammen zu einer dreimonatigen Sprachschule nach Florenz zu fahren (»il duomo, il ponte vecchio, il bello David«), und wie er immer länger wartete in seiner Wohnung und allmählich unsicher wurde, ob etwas mit der Abmachung nicht stimmte, oder mit ihm, oder mit den Koordinaten Raum und Zeit

Zukunft
Die Zukunft, dachte Adrian im Parkettzimmer (das er so bezeichnete, weil es so gross war und er immer auf dem Boden lag und durch die Fenster an den Himmel schaute), ist äusserst unzuverlässig. Hat man sich einmal auf eine mögliche Variante eingestellt, die einem dazu noch schlüssig scheint, kommt es garantiert und immer anders. Die Zukunft, dachte er, darf
man nur als Phantasiemotor benutzen, sie ist reine Phantasie, eigentlich gibt es gar keine Zukunft: Kaum hat man sie sich ausgemalt, wird sie schon widerlegt, und nach einer gewissen Zeit betrachtet man Dinge, die ständig widerlegt werden, eben als falsch, oder als inexistent. Im Parkettzimmer dachte Adrian, was mache ich nur, während sie, nachdem sie geklingelt hat, die Treppen hochsteigt, komme ich dann wie überrascht mit einem Geschirrtuch in der Hand zur Tür? Lasse ich die Wohnungstür einen Spalt breit offen stehen? Wer sagt zuerst etwas? Er dachte, es ist jedenfalls nicht verboten, sich solche Dinge zu überlegen. Aber man darf auch hoffen, dass man von den Ereignissen überrascht wird. Wer überrascht wird, ist spontaner, das wusste Adrian (siehe unten: Zufall).

Kombinationsspiel
Adrian und Rina waren eigentlich gute Kandidaten für das Kombinationsspiel: Adrian dachte manchmal beim Einschlafen auch an Marion mit den grossen Augen, die Schwester einer Mitbewohnerin, und vielleicht ein bisschen an die blonde Cathrin, mit der er einmal nackt im See gebadet hatte. Mit Rina zusammen waren das für ihn im Moment drei Kombinationsmöglichkeiten (von denen er wusste – es konnte sich ja immer ganz plötzlich etwas ergeben), alles nichts Konkretes, nur ungenau im Möglichkeitenraum Schwebendes. Für Rina hingegen gab es immer schon und eindeutig Peter (von dem Adrian nichts wusste), auf den sie aber gerade stinkwütend war, weil er immer mit dem Barmann vom Blue herumschäkerte und öfter als nötig nach der Polizeistunde mit ihm noch eins trinken ging. Und ausserdem war da kürzlich noch ihr Auftraggeber gewesen, dessen Porsche sie verkratzt hatte (siehe unten: Parkplatzproblem), ein Ausflug ins Grüne, so hatte er es formuliert. Insgesamt eine recht hoffnungslose Ausgangslage dafür, dass den beiden das Kombinationsspiel glücken würde, doch gerade darum nicht unwahrscheinlich.

Mode
Etwas in der Richtung hatte Rina studiert. Und jetzt fertigte sie Kleider für alle möglichen wichtigen Kunden, die ihr immer wieder grossartige Szenen machten in ihrer kleinen Bude, worauf sie sie kurzerhand vor die Tür stellte, wo sie weiter schimpften, aber nichts machen konnten, ausser darauf zu warten, dass sie sich erweichen liess und das massgefertigte Kleidungsstück ein paar Stunden später gegen einen nicht unbeachtlichen Aufpreis herausrückte. Sie lief selber umher in weiten, eigenwilligen Kreationen. Und manchmal stolperte sie auch drüber, doch das war selten (siehe weiter unten).

Hochnebel
Ein unsagbar trüber Winter war das gewesen. Adrian hatte noch nie so etwas erlebt. Oder lag es nur an ihm? Hatte sich völlig treiben lassen, spät nachts noch in irgendwelchen Bars herumgesessen, mit Freunden seiner Mitbewohner, war einfach mitgegangen und hatte nie ein Wort gesagt. Pilotfisch hatten sie ihn genannt, der kleine Begleiter der Walfamilien. Tanzhallen irgendwo im Industriequartier, dann stundenlanges Nachhauselaufen durch die Nacht. Hatte viel an Rina gedacht, an die wenigen Briefe, Telefonate, und hatte sie einmal in der tanzenden Menge zu sehen geglaubt. Die Tränen schossen ihm in die Augen, er setzte sich auf den Boden vor den Toiletten, mitten in die Lachen, und liess dem Schluchzen freien Lauf. An diesem Abend ging ihm erstmals die Frage auf: Ob der letzte Sommer vielleicht zu schön gewesen sei? Ein kurzer, heller Blitz, und man ist für immer aus dem Lot.

Parkplatzproblem
Rina würde an dem Tag kein Parkplatzproblem haben, denn sie hatte nie eines. Erstens hatte sie einmal den Saab Cabrio ihres Chefs zweieinhalb Minuten auf dem Helikopterlandeplatz des Spitals stehen lassen (aussteigen, ungesehen am Schwesternzimmer vorbeischleichen, operierten Chef aus dem Bett holen, ihn anziehen, wieder am Schwesternzimmer vorbei, in der Toilette vor den Liften kurz pinkeln, Chef wieder unterhaken, Auflauf von Weissberockten zerstreuen und mit Vollgas vom Gelände brausen). Zweitens hatte sie ein anderes Auto dieses Chefs (bei dem sie übrigens nur knapp zwei Monate arbeitete, als Chauffeuse, Kaffeemacherin und Partybegleiterin), den schwarzen Carrera, mächtig angekratzt beim ersten Ausbiegen aus dem Parkplatz (ja, ja, die Porsche-Kupplung), worüber aber er und sie kein Wort verloren auf der weiteren nicht unturbulenten Fahrt hinaus aufs Land, in jenen Gasthof. Und drittens durfte ihr elfenbeinfarbener Käfer, wie sie immer sagte, sowieso überall parkieren, weil sie sich viertens jeden aufschreibenden Polizisten um den Finger wickelte und fünftens generell keine Bussen bezahlte. Unter Adrians Wohnung (im Zentrum der Altstadt) befand sich ein grosser Parkplatz. Sie kam von Norden, in die Altstadt würde sie über die Hauptverkehrsachse von Nordwesten her einfahren. Adrian wusste gar nicht, aus welchem Fenster er kucken sollte, jedenfalls musste er auf alles gefasst sein.

Wie man es auch sehen könnte
Mann träumt am hellen und heiteren Tag von Frau, die ihn nach Italien entführen wird, und verbringt deshalb einen hypertonischen Nachmittag, an dem nichts passiert. Oder: Frau findet und findet die verdammte Strasse nicht und reist durch eine völlig unglaubwürdige Verquickung von Umständen ohne ihn weiter (siehe unten: Zufall). Oder: Die beiden sind schlicht und einfach nicht füreinander geschaffen (siehe oben: Kombinationsspiel).

Zufall
Um elf hatten sie abgemacht, zuhause losgefahren war Rina um sieben, das heisst, es wurde dann Viertel vor acht, bis sie endlich fuhr. Weil ihr auf dem Weg eingefallen war, noch kurz bei einem alten Bekannten vorbeizuschauen, kam sie erst kurz vor zwei in der Stadt an. Weil einer von Adrians Mitbewohner das Telefon nicht richtig aufgelegt hatte, konnte sie, nachdem sie die Strasse bestimmt eine Dreiviertelstunde lang gesucht hatte, Adrian die ganze Zeit nicht erreichen. Beim Aussteigen auf der Brücke über den Fluss rutschte ihr der Autoschlüssel aus der Hand, fiel auf den Gullydeckel, hüpfte einmal kurz und blieb quer auf den Metallstäben liegen. Was für ein Dussel, dachte Rina, aber auch: Das ist ein Zeichen. Um Viertel nach drei hatte sie das Auto endlich vor einem Laden in der Fussgängerzone neben Adrians Haus abgestellt und schaute die Fassade hoch. (Was Adrian zu der Zeit machte, siehe unten: Muss man?) Sie steckte sich eine Zigarette an, betrachtete ermattet die Passanten, die an der Ladenfront entlang schlenderten und erstaunt einen Bogen um den hellen VW Käfer machten. Nach der Hälfte der Zigarette kurbelte sie die Scheibe herunter, warf den Stummel hinaus, Scheibe wieder hoch. Sie sprang aufs Pflaster hinaus, warf die Autotür hinter sich zu, stürmte voran, blieb stehen, kehrte noch einmal zurück, Handtasche holen, Spiegelkontrolle, und los. Im Treppenhaus drückte sie sich am Postboten vorbei, der ein Paket unter dem Arm trug, und stiess an einen Stapel Apfelkisten des danebenliegenden Cafés, der Stapel fiel um und eine Kiste ihr direkt auf den Spann. Als sie in die Knie ging, hatte der Postbote gerade die Türklinke in der Hand und schaute draussen auf die Klingelschilder, kehrte aber noch einmal um. Der Strumpf war gerissen, ein heller Fuss inmitten von Äpfeln.

Muss man?
In der Küche hatte Adrian gar nicht so lange gesessen, die meiste Zeit hatte er auf der Toilette verbracht: Verdauungsschwierigkeiten, wegen einer ungewöhnlich grossen Aufregung nach einer langen Zeit der Nichtaufregung. Ein Mitbewohner hatte am Morgen sein Zimmer neu gestrichen, jetzt standen die Eimer und Pinsel im Bad, starker Geruch. Die Steuererklärung: hätte er machen müssen, schon zum letzten Einunddreissigsten (gemäss Mahnung), hatte sie erneut erfolgreich verschoben. Fragen wir uns einmal im tiefsten Innern, sagte er sich, muss man eine Steuererklärung wirklich machen? Man weiss es nicht, sagte er, auf der Toilettenschüssel hockend, das ist die Antwort. Unsereiner zieht so oft um und hat so unklare Geldquellen. Klar muss man, wenn man im Rahmen der Gesellschaft denkt, sobald man aber ein bisschen darüber hinaus denkt, weiss man es schlicht und einfach nicht, und das muss man erst einmal den Mut haben sich einzugestehen. Ähnlich argumentierte er auch über Rinas Kommen. Zuerst hatte er noch bangend gewartet. War dann unsicher geworden. Und hatte schliesslich eingesehen: Wann kommt Rina? – Man weiss es nicht. – Kommt Rina überhaupt? – Kann man nicht sagen. Kann man umso weniger sagen, als man sie schon ein bisschen kennt. – Muss man sich auf ihr Kommen vorbereiten? – Muss man nicht, fand Adrian. Darum verliess
er im Verlauf des frühen Nachmittags die Toilette und ging sich noch schnell rasieren, dabei immer wieder innehaltend und auf einen möglichen Klingelton horchend. Dann murmelte er, im Gang auf und ab gehend: io aspetto, tu aspetti, lui aspetta, noi aspettiamo … Als er den Spruch zehn Mal aufgesagt hatte und vor dem in der Mitte seines Zimmers bereitstehenden Rucksack und der Papiertüte mit dem Parfum für Rina stehen blieb, wusste er einfach nicht mehr wie warten und musste ein bisschen weinen. Er setzte sich auf den Boden, bis es vorbei war.

Pass auf, mein Fuss
In den Genuss dieses ständig wiederholten Sätzchens kam nicht Adrian, sondern ein anderer.

Büchersendung
Als es klingelte, sprang Adrian wie elektrisiert auf, setzte sich dann wieder und stand noch einmal langsam auf. Er ging zur Eingangstür, horchte, wartete noch einmal zwei, drei Sekunden und drückte dann den Summer. Er machte die Tür auf, hörte eine Frauenstimme, zuckte zusammen, dann gleich darauf eine Männerstimme, und als er die schnellen, schweren Schritte hörte, sprang er zurück in die Wohnung, bereits misstrauisch: Das Glück würde nicht in so grossen Schuhen zu ihm kommen. Er unterschrieb mürrisch die Empfangsbescheinigung, den jungen Mann dabei kaum ansehend, murmelte einen Dank. Im Paket war offenbar ein Weinbuch, für einen seiner Mitbewohner.

An einem Strand
Letzten Sommer hatte Adrian noch Pep gehabt. Hatte die alleinige Blonde gesehen am Strand, die immer wieder von Einheimischen angequatscht wurde, hatte es sich lange überlegt, und war dann, als sie ins Wasser ging, ebenfalls aufgestanden und ihr gefolgt. Am Abend assen sie zusammen, spazierten Hand in Hand durch die Altstadt, fütterten einander mit Eis, verstohlene Küsse, und als sie gegen Morgen erschöpft in einer Bar Platz nahmen, fragte er: Wie heisst du eigentlich? Dann war dieser lange, lange Herbst gekommen und der Winter, in dem nie die Sonne schien (siehe oben: Hochnebel). Das Frühjahr hatte er wie hinter Milchglas verbracht, völlig passiv. Und jetzt hatte Adrian keinen Pep mehr. Rina hatte ihn eine Woche zuvor angerufen, ihm im Detail den Plan erklärt, er hatte sofort ja gesagt, und dann kam ihm in den Sinn, dass es gar nicht in seine Semesterferien passte. Er rief sie sofort zurück, sagte, ich muss noch kurz überlegen, und liess ihr eine halbe Stunde später (warum war sie schon wieder
so schnell weg?) durch diesen Typen ausrichten, gebongt. Ob der es ihr gesagt hatte? Adrian sass in seinem Parkettzimmer auf dem Boden und ging noch einmal alle Möglichkeiten durch, wie sie einander missverstanden haben könnten. Kurz nach drei schaute einer seiner Mitbewohner zur Tür herein, fragte, ob es ihm gut gehe (er hatte gegenüber den anderen nichts von seiner bevorstehenden Reise verlauten lassen, auch so ein Zeichen), und schloss sie wieder. Adrian horchte alle Viertelstunden auf die Schläge der nahen Kirchturmuhr. Um Viertel vor fünf stand er auf, nahm die Papiertüte, trat zum Fenster, drehte am Messinggriff, nahm das Fläschchen aus der Tüte, drehte den Verschluss auf und leerte den Inhalt hinunter auf das vier Stockwerke unter ihm liegende Kopfsteinpflaster. Seine Hand zitterte dabei.

Wie Rina gepackt hatte
Schnell: Toilettenbeutel und ein bisschen Wäsche in die Sporttasche, Handtasche gegriffen, Blick in den Spiegel, Treppe runter, Autotür auf, alles mit Schwung auf den Hintersitz, Zündschlüssel gedreht und los. Hatte sie tatsächlich vorgehabt, für drei Monate wegzufahren?

Lesen
Lesen konnte Adrian an diesem Nachmittag nicht. Er war aber auch nicht der Typ, sich genau vorbereiten zu wollen. Einmal in Italien, würde er sich schon zurecht finden. Hauptsache, jemand, den er jetzt nicht nennen wollte, wäre endlich an seiner Seite. E l’italiano, già lo sapeva un po’.

Kino
Der Film, in dem Rina nur drei Häuser weiter sass, gefiel beiden nicht, weder ihr noch Marek, aber Marek hatte nicht in den früheren gekonnt, weil er seine Tour noch nicht fertig gehabt hatte und noch im Hauptamt die nichtabgegebenen Pakete einsortieren musste (siehe oben: Büchersendung). Eigentlich hätte sie in der Zeit, als sie im Café unten im Haus auf ihn wartete und mit dem Jungen am Nebentisch quatschte, auch zu Adrian hochgehen können. Doch das fiel ihr erst später ein.

Die Postkarte aus New York, ein halbes Jahr später
Adrianitschowitsch! Weisst du, was ein … ist? Kannst du dir vorstellen, wie es groovt hier? Es ist der Tagundnachtfahrstuhl. Schlafen wieder daheim. Gestern Defilee mit Mick. Nichts verkauft, aber viele Blitzlichter. Ciao Kleiner Rina Who the fuck are you? Come along, helluva lota space in my loft. Bring some more of these overseas bitches, they’re worth the cloth. Scolton I hate to rhyme when I drink lime with rum Baccardi all around me looks so tardy Sarah Forget the Krauts! (unleserlich)

Firenze
Una città meravigliosa, devi assolutamente visitarla, stand auf dem Prospekt, den Adrian noch immer auf seinem Schreibtisch liegen hatte.


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Eine Nacht im Leben von ...

... Ursula Krechel

Die Nacht ist ein seltener Vogel, man kann ihn beobachten, aber nicht fangen. Man kann zuschauen, wie er im Laub steht mit gebeugtem Nacken und blanken Augen, der Schnabel gräbt im Laub, er zieht etwas hervor, eine Eichel, eine Platanenfrucht, er hält mit den Krallen die Beute fest und pickt mit dem Schnabel, bis sie ein mundgerechtes Stück ist, ein Beutestück. Und dann flattert er davon, und wer ihn beobachtet hat, weiss nichts von ihm, blanke Augen, ein Krächzen, der Kopf sitzt schief auf dem Hals, ein Gekreisch, ein Flattern, ein Aufgewühltsein, so ist die Nacht. Das fällt so wie Blätter vom Baum, das fällt wie die Dunkelheit, das fällt wie die elektrische Jalousie im Stockwerk unter mir, jemand drückt einen Bedienungsknopf, ich weiss, es ist eine junge, weisshäutige, blondbefiederte Hand mittleren Alters, rrrrh, nein, das ist noch keine Hand mit braunen Altersflecken, aber der nüchterne Verstand kann sie sich schon vorstellen, man muss sie dann unter einer dicken Schicht Crème verbergen oder wegätzen lassen, das ganze Leben wegätzen lassen, wenn es nicht so ätzend wäre. Die Jalousie fährt herunter, ein Raum ist dunkel schon am späten Nachmittag, ein Höhlenraum, eine schlafwarme Düsternis. Mein Raum darüber wird bis in die tiefe Nacht hell bleiben, meine Finger auf keinen Bedienungsknöpfen, keine Jalousie, keine Eitelkeit des Versteckens, kein Polster unter dem müden Kopf. Meine Finger auf den Tasten, meine Finger schreiben T-A-S-T-E-N, ich taste nach den Wörtern, den samtschwarzen Wörtern, horche in die Nacht, die still ist, stillgestellt.
Von unten höre ich nichts, die blonde Frau schläft oder sie tut, als ob sie schliefe, während sie horcht, ob im oberen Geschoss gelärmt wird. Sie lauert darauf, dass gelärmt wird, dann kann sie sich beklagen. Eine Stunde früher habe ich den halbwüchsigen Sohn gehört, der halbwüchsige Sohn, der in die Breite gegangen ist vor meinen Augen, die gleich bleibend sehend geblieben sind in den letzten Jahren, während das Gehör immer mehr aufnimmt, ein Schalltrichter durchs Gehör in den Kopf, ins Gedächtnis, je leiser die Nacht, um so hörbarer der Atem der Welt. Die Nacht ist kein Erzählstoff, die Nacht ist überhaupt kein Stoff, sie ist nicht anzufassen, aufzufassen. Meine Tagaugen haben einen kleinen Jungen gesehen, dessen Mutter, wenn ich abends die Tasten berührte, wenn die Tasten sprangen und die kleine Erkennungsmusik der Schreibanstalt hochfuhr, Nachtmusik, dessen Mutter, die blonde Mutter des damals kleinen Jungen, wählte meine Telefonnummer und rief mich an: Kinder gehen vor, Sie stören die Nachtruhe meines kleinen Sohnes. Sie klagte über Stimmen in der oberen Wohnung, sie klagte über Musik, sie klagte, dass jemand wach ist, während sie schläft. Das ist nicht normal, dass jemand wach ist, während andere schlafen. Das ist nicht normal, dass jemand schreibt, wie jemand schläft, ihn schlafend beobachtet, ein Schlafprotokoll führt und auf die am späten Nachmittag heruntergelassene Jalousie horcht. Das Horchen muss verboten werden.
Das Horchen ist eine Vorform des Schreibens. Aus dem Schreiben erwächst das Sprechen, das Sprechen ist ein Lärm, eine Störung der nachbarlichen Nachtruhe. Ich sah den kleinen Sohn wachsen und wachsen, ich sah ihn Fussball spielen, ich hörte seinen quäkenden Kassettenrecorder, ich sah den Sohn wachsen über Nacht, zu einem Bär heranwachsen, er ist nun so gross wie ich, aber sehr viel breiter, eine ungeschlacht heranwachsende Masse. Seine Mutter gibt ihm viel zu essen, aber nicht am Abend, wenn der Abend früh in die Nacht übergeht, ich sehe dann kein Licht in der Küche unter mir, ich sehe ein winziges Nachtlicht der Mutter im Salon, das um zehn Uhr entschlossen verlöscht, ich verstehe, dass die Mutter des Jungen ermüdet ist, während ich hellwach bin, ich bin eine nachtaktive sternklare Person, besonders in kalten Nächten, die Mutter musste den dicken, schweren Sohn schon am Mittag von der Schule abholen, das muss sie nicht, das tut sie aber, es scheint sie bis zum Abend zu ermüden, sie hat ihn ruhig gehalten am Nachmittag, so dass er am frühen Abend einen Koller bekam, er nahm seinen Fussball, bong, schoss ihn gegen die Tür der Wohnung, bong, die Gläser zittern, die Lampe schwankt, die Gemütswerte sind im Keller, das ist der Beginn der Nacht, eine Nacht, die fällt, bodenlos fällt, während ich bereitstehe, sie durchzumachen, die Nacht besteht aus Zeitfenstern, Zeitlücken, Stundenglück, Stundengebet, die Zeit ist eine zarte und gleichzeitig weiche Dunkelheit, meine Tasten sind hart und dunkel, meine Fingerkuppen sind hart und hell, die Weiche und die Härte vermischen sich wie überall, ich schreibe, ich schweige, ich verschwinde, ich bin sehr, sehr leis, aber das Getöse im Kopf, die Wörter, die Gebirge von Wörtern, die herübergeschoben werden aus einem anderen Land, denen Platz geschaffen werden muss.
Elchwörter, Mooswörter, Dunkelheitswörter, jede Lücke, um die Dunkelheit zu behausen, ist recht, das Dunkel bleibt. Wenn es keine Wörter gibt, hat die Dunkelheit keinen Raum. Ich schaffe Raum für Wörter wie Einsamkeit, die Einsamkeit der Nacht, Staunen über die Lücken zwischen den Wörtern, die mit Moos auszupolstern sind, aber ich habe kein Moos, die Tiere, die im Moos nagen und malmen, sind erfundene Tiere, Abneigung, Verachtung, Scheu, die warmen Hinterlassenschaften am Morgen, der Abdruck der Hufe, ja, ich liebe die Nacht, ich liebe diese Nacht wie viele Nächte, eine komplexe polygame Nachtliebe, und ich bin von den Nächten umgarnt, umfangen, aufgewühlt, deshalb bleibe ich bei den Nächten, deshalb zünde ich den Nächten Lichter an, eine Festbeleuchtung der Nacht mit livrierten Dienern am Tor, die Kutschen warten am Prager Platz, die Kutscher haben den Tieren die Futtersäcke umgehängt, ich feiere diese Nacht. Aber Sie beleuchten ja den ganzen Hof!, werde ich am Morgen staunend und befremdet angesprochen. Die Nächtlichkeit ist für die Schläfer eine Schande, deshalb verkriechen sie sich vor ihr. Gibt es einen Grund, die Nacht zu verschlafen, der amtlich besiegelt und beflügelt ist? Und ich horche in die Wohnung unter mir, ich horche auf den pulsenden Schlaf des übergewichtigen Jungen, der Bär ist los, noch schläft er in seiner Mutterhöhle, und ich horche, wenn das Vibrieren der Gläser zur Ruhe gekommen ist, und das dicke halbwüchsige Kind schläft, ich horche auf die alleinstehende Mutter, die am Wochenende in aller Form den Besuch des geschiedenen Vaters des dicken Kindes empfängt, rituelle Bewegungen, das nacheheliche Sorgerecht ein Bewegungsmelder, ein Ballett wie ein Bienentanz, das Kind verlässt mit dem Vater das Haus, der Vater führt es in ein Schnellrestaurant, dort essen sie schnell sehr viel, stillen das ungute Gefühl, dass etwas falsch ist, abgeholt und wieder zurückgebracht, freundfeindliche Übergabe des dicken Kindes, das jünger, empfindlicher wirkt, wenn es mit dem Vater aus dem Auto steigt. Als würde es bei der gelangweilten Mutter altern, sie arbeitet nicht, sie schleppt Tüten und Pakete an, in denen Jacken aus Kalbsleder und Blumen-T-Shirts stecken, ich sehe sie hocherhobenen Hauptes das dicke Bärenkind abholen, hocherhobenen Hauptes und mit einem geblümten neuen Oberteil, das den Körper straff umspannt. Ich stelle mir die Nacht mit einer fetten Schicht Hautcrème bestrichen vor, sie ruht in einem geblümten Bett, sie liegt auf der Bärenhaut, sie horcht auf den jungen Bären im Nachbarzimmer, der ihr über den Kopf wächst. Bei Einbruch der Dunkelheit hat der Vater das Kind in das Haus zurückgebracht, die Mutter ist da, ist da, wenn er kommt, ist da, wenn er geht, sie war beim Friseur, sie duftet, sie hat Leimruten ausgelegt, der Kokosläufer im Treppenhaus klebt, fürchte ich.
Sie trägt eine Blumenbluse mit violetten und auberginefarbenen Ranken, die sie abstreift, wie sie den Tag abstreift, wie sie die Mutterschaft abstreift, wie sie die Geschiedenheit abstreift, alles streift sie ab und löscht das Licht. Sie muss über das Vergehen der Zeit nachdenken, wenn sie nicht schläft, der Bär vertilgt ihr Essen, der Bär wächst, und sie nimmt ab, die Zeit vergeht, in der die Tiere und Menschen sich paaren, sie hat sich einmal gepaart in einer langen heissen Nacht, das ist lang her, jetzt verbringt sie die Nacht allein, diese Nacht wie viele Nächte, ich höre ihr Alleinsein, ein dröhnendes Alleinsein in einem zu grossen Bett, ich stelle mir das Alleinsein wie eine klebrige Masse vor, die sie auf dem Leintuch hält, schon früh am Abend klebt sie fest, deshalb muss die Jalousie geschlossen sein, niemand darf sehen, wie sie ans Bett gefesselt ist vor Lethargie, niemand darf die sorgfältig zusammengefaltete Bluse sehen, niemand. Und ich horche in die Nacht und bin ein Wandertrieb, gehe vom einen Zimmer ins andere, gehe ins Bad, taste mich zum Schreibtisch zurück, T-AS-T-E-N-D-R-U-C-K, ich führe Buch über das Kommen und Gehen der Wörter, über die Geräusche der Wörter, den Atem des fremden Schlafes, und bin wach, so unhaltbar wach wie jede Nacht.


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Wunderwärtig
Paul Nizon: Das Drehbuch der Liebe. Journal 1973–1979.
Herausgegeben von Wend Kässens.
Suhrkamp 2004

Mit dem Tagebuch – einer Gattung sui generis, zweifellos – hat es die irritierende Bewandtnis, dass man nie recht weiss, wie man seine Eigenart nehmen soll. Ein Mischwesen, aus dem Augenblick geschöpft, doch im Nu auf Vergangenes erpicht und prospektiv ausgerichtet. Halb
Beichtstuhl, halb Rednerpult. Alles ist erlaubt, jede Gefühlslage zugelassen, und doch wird das Schreibbedürfnis von etlichen Befangenheiten angefochten. Ein jedes Tagebuch folgt eben seinen individuellen Voraussetzungen und ist bisweilen auf jeder Seite, ja, von Satz zu Satz für Überraschungen gut.
Auch das von Wend Kässens aus einem stattlichen Blätterkonvolut zusammengestellte Journal Das Drehbuch der Liebe von Paul Nizon ist ein anziehend vertracktes Gebilde, das die Jahre 1973 bis 1979 umfasst. Für hinreichend Spannungen sorgen allein schon die
biographischen Vorgaben. In diesen Jahren entsteht der Roman Stolz (1975), der seinen Titelhelden vor dem Leben verzagen lässt und zuletzt dem Tod anheimgibt. Und im Zug einer langwierigen Inkubation gewinnt das nächste Buch, der Paris-Roman Das Jahr der Liebe (1981) allmählich seine Form. In der selben Zeitspanne heiratet Nizon seine zweite Frau Marianne, um alsdann das Wagnis einer von emotionalen Zerreissproben und Abbrüchen geprägten Beziehung zu einer jüngeren Frau, Odile, einzugehen, die 1980, nach der Scheidung von Marianne, wiederum in die Ehe münden wird.
Neben den tragenden Motiven enthält auch dieses Journal, was der Tag ihm zugetragen, was den Autor immer schon bewegt hat: das nomadische Unterwegssein, Städtebilder von London, Paris und New York, Lektüreerfahrungen mit Thomas Wolfe, Joseph Conrad, Alfred Andersch, die wahlverwandt empfundene Nähe zu Fellini oder Begegnungen mit Konrad Farner, Canetti und Handke. Man möchte solche eindringlichen Schilderungen keineswegs missen, zumal sie stets Nizons eigenes Künstlertum berühren und reflektieren.
Doch was an Nizons Journal vor allem besticht, sind die Interferenzen von Leben und Schreiben, das Umschlagen des einen ins andere. »Ich muss mich in den Zustand der Liebe, Lebensliebe, Weltliebe, Frauenliebe steigern können, damit ich den Kontakt nicht verliere...« heisst es einmal. Und weiter: »Das Schreiben als Beleben und mich selber mit allem in Kontakt bringen. Immer von neuem die Wirklichkeit erfinden und das Lebendigsein herstellen durch Wort- und Sprachanlauf.«
Es gilt Nizon, den frischen Blick des Fremdlings, des Jugendlichen, des »Lebensanwärters« zu erhalten, und zugleich gilt es ihm, unabweislich in der Wirklichkeit zu arrivieren. Mit Odile hofft er, »anders oder neu auf die Welt zu kommen«, für einmal »im Leben zu weiden«, um alsbald festzustellen, dass die fortwährend gestellte Frage nach dem Leben auch am Schreibtisch mitentschieden wird. Dabei ist der unbedingte Impetus, die Leidenschaft, die ihn antreibt, nicht sein schlechtestes Teil. Er »möchte ein grosser, möglichst sehr grosser Schriftsteller sein oder werden«, mag sich nicht mit den geheimnislos konfektionierten Produkten eines Andersch begnügen und scheut sich nicht, seinen Stolz in die erlauchte Reihe eines Werther oder Büchners Lenz einzuordnen.
Neben den schöpferischen Höhenflügen verschweigt er indessen nicht seine Abstürze, Selbstzweifel und Ausdrucksnöte. So schweben ihm die Begebenheiten des Stolz bis in episodische Einzelheiten vor Augen, doch bedarf es wiederholter zäher Bemühungen, um
sie angemessen zu gestalten. Rückhaltlos dem Schreiben ausgesetzt, wird er bald von existentiellen Ängsten, bald von euphorischen Glücksgefühlen ereilt. Aus dem verwegenen Vagieren zwischen dem »Schreibleben« und »Lebschreiben« schöpft Paul Nizon seine Sprachkraft, die ihm gerade auch im Journal hinreissende Formulierungen und Wortfindungen eingibt. Anlässlich des Films I Vitelloni attestiert er Fellini eine »wunderwärtige« Aufnahmefähigkeit: ein neugebildetes Epitheton, das sein eigenes Schaffen vorzüglich kennzeichnet.

Werner Morlang


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