Nummer 124 Zurück zum Archiv

Junge Literatur

Erscheinungsdatum: April 2006

Auszüge:
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Heft
Rudolf Bussmann : Fisimatenten
Urs Mannhart: Entgegen der Fahrtrichtung
Marcus Jensen: Grün und Blau
Wanda Schmid: Sie..., Textfragmente
 
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Inhaltsverzeichnis

(Unterstrichene Texte können angewählt werden)

Liebe Leserinnen, liebe Leser
Fisimatenten
Junge Literatur

Markus Bundi
Urs Mannhart
Jürg Halter
Svenja Herrmann
Sabina Naef
Lea Gottheil
Simon Froehling
Christian Zehnder

Auf Zehenspitzen
Marcus Jensen, Prosa
Balz Raz, Aphorismen
Wanda Schmid, Textfragmente
Iren Baumann, Gedichte
Eine Nacht im Leben von Katharina Geiser
Nachruf auf Werner Schmidli
Besprechungen und Hinweise
Rudolf Bussmann über Monique Schwitter
Werner Morlang über Elsbeth Pulver
Elsbeth Pulver über Walter Gross
Christoph Wegmann über Christine Rinderknecht
Martin Zingg über Michael Schmid
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
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Über dieses Heft

Liebe Leserin, lieber Leser,

»Dieses Land hat ein literarisches Nachwuchsproblem«, stellte jüngst die FAZ fest: »Die Schweiz spielt bei den deutschsprachigen Nachwuchswettbewerben kaum mehr eine Rolle.« Diesem Verdikt kann schwerlich widersprechen, wer die Literatur als Sportdisziplin betrachtet, bei welcher Nominationen und Trefferpunkte eine Rolle spielen. Wer sich einfach einmal in der Szene umsieht, entdeckt dagegen eine ganze Reihe von jungen Schreiberinnen und Schreibern mit einem Reichtum an Themen, der nicht hinter dem früherer Generationen zurückbleibt. Auffallend dagegen sind zwei Dinge: die Debütantinnen weisen in der Regel ein deutlich höheres Einstiegsalter auf und sie haben es heute schwerer, öffentlich wahrgenommen zu werden. Der Schriftsteller und Kulturjournalist Markus Bundi, der die Texte für unseren Schwerpunkt ausgewählt hat, sucht dafür in seinem einleitenden Essay nach möglichen Erklärungen.
Einige der hier Vorgestellten stehen noch ganz am Anfang, sind gleichsam in den Startlöchern. Andere können bereits auf erste Publikationen verweisen, die Interesse wecken und noch einiges erwarten lassen. Gemeinsam ist den Schreibenden die Ernsthaftigkeit, mit welcher sie neue Formen und neue Themen suchen und zugleich ihren eigenen Zungenschlag erproben.
Entdeckungen werden Sie auch im zweiten Teil machen können, mit zeitgenössischen Texten aus Deutschland und der Schweiz. Sie finden am Schluss Besprechungen einiger interessanter Neuerscheinungen. Da es in unserem Heft um junge Literatur geht, haben wir alle Bücher, die Erstlinge sind, mit einem Stern markiert. Sie werden staunen – es gab noch nie so viele!
Wir rechnen mit Ihrer Neugierde und wünschen Ihnen bei der Lektüre nicht nachlassendes Vergnügen.

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

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Rudolf Bussmann

Fisimatenten

Bitte lesen Sie diese Seite aufmerksam durch, bevor Sie weiterblättern. Es kann sein, ja es ist höchst wahrscheinlich, dass Sie sich damit eine Menge Zeit sparen.
Gewiss dürfen wir Sie inzwischen zu den Freunden der Belletristik zählen, die ihre Lesezeit haushälterisch einzuteilen wissen. Zu jenen Auserwählten, die, angeleitet von einer renommierten Schweizer Zeitung, sich manche Woche lang viele Stunden Lesezeit vom Mund abgespart haben. Tolstois Krieg und Frieden, für den Normalleser eine Ewigkeit von gut und gern vierzig Stunden, brachten Sie in einer halben Stunde mühelos hinter sich. Sie sparten allein mit diesem Roman eine Arbeitswoche Zeit. Hochgerechnet auf vier Bücher macht das einen vollen Monat aus. Einen Monat eingespart, und den Preis von vier Büchern dazu. Denn dank »NZZ am Sonntag« brauchen Sie die Schwarten nicht mehr zu kaufen, Sie bekamen als Beilage eine schlanke, eine anorektisch dünne Broschüre in die Hand, die Sie mit allem Wissenswerten über ein Werk wie Krieg und Frieden versorgte, ohne dass Sie ein Gramm Literatur zu viel ansetzten. Natürlich kam Ihnen weit Konzentrierteres als eine blosse Zusammenfassung ins Haus, nämlich eine Zusammenfassung der Zusammenfassungen, wie sie überall in den Schulen im Umlauf sind, eine vielfach geprüfte, hieb- und stichfeste Version mit allem Drum und Dran, historischem Hintergrund, Inhalt, Aufbau und Stil, Interpretation, Leben des Autors. Nicht ein Buch, sondern viele Bücher in einem. Eine Bibel von apokalyptischer Kürze, ein Klassiker, abgehandelt auf sensationellen elf Seiten. Der Romantext selber, eine Meisterleistung der literarischen Kernschmelzung, reduziert auf fünf Originalsätze. Was wollen Sie mehr? Nichts wollen Sie mehr. Sie wollen weniger.
Sie werden, falls sie einen Buchladen je noch betreten, den Kurzroman suchen. Den Roman von elf Seiten, der Ihnen die Lesezeit einer Woche wegspart. Bitte, Sie sind Kunde, Sie sind König: In Anbetracht Ihrer Zeitbedürfnisse arbeiten bereits mehrere Verlage an der Entwicklung der Neutronennovelle. Die Neutronennovelle soll dem Vernehmen nach Wörter und Sätze eliminieren, die leeren Seiten hingegen belassen, sodass Sie beim Öffnen des Buches sofort das gewohnte Novellengefühl haben. Und einige Dichter der Bonsai-Avantgarde, hört man, sind am Austesten des Nullzeilengedichts, das Ihnen ermöglicht, im morgendlichen Stossverkehr einen ganzen Lyrikband zu lesen, ohne den Blick von der Strasse zu heben. Was viele nicht mehr für möglich hielten, scheint Wirklichkeit zu werden – die Literatur ist guten Willens, mit der Produktion von Aktivkonzentraten ihren Beitrag an die volkswirtschaftliche Effizienz zu leisten.
Um als Literaturzeitschrift bei solch fröhlichem Eindichten synergetisch mitzutun, hier in gebotener Eile die Kurzfassung, die Sie schon ungeduldig gesucht haben: Der drehpunkt Nr. 124/2006 bringt Texte zeitgenössischer Autoren, über deren Lesemusshöhe noch keine zuverlässigen Angaben bestehen, vermutlich leicht unter der Nobelpreisverdachtsmarke, (aber man weiss ja nie, so dass es sich empfiehlt das Inhaltsverzeichnis herauszutrennen und in Reichweite aufzubewahren), ferner Besprechungen neuer Bücher – Achtung, es handelt sich um Kurzinfos! Am besten den Rezensionsteil zusammen mit dem Inhaltsverzeichnis und dieser Seite herausschneiden und im Ordner mit den literarischen Abstracts ablegen. Dann das Büchlein zugemacht und weggeschmissen, schon haben Sie im Büchergestell sieben Millimeter Patz gespart, den Kopf um siebzig Seiten weniger belastet. Legen Sie die zwei Stunden Zeit, die sie sich damit erworben haben, mündelsicher an. Achtung vor Tagedieben. Lassen Sie sich nichts davon abluchsen durch Landstreicher mit epischen Gesängen oder Eckensteherinnen mit Lyrikgeflüster. Hart bleiben, gradaus gehen, weiter am Ziel arbeiten.


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Urs Mannhart

Entgegen der Fahrtrichtung

Nach Hause, wo die Fruchtfliegen sind, wo die dreckigen Teller in der Spüle, der brosamenübersäte Tisch mit dem farbigen Papiertischtuch, die weiche Butter im nicht mehr richtig arbeitenden Kühlschrank, der sich nicht füllende Mülleimer, nachts und magisch der blaue Schimmer von der Gasflamme im Boiler über der Wanne, das fehlende Klopapier und die alten Zeitungen an seiner statt, auf ozeanblauen Kacheln der cremeweiss-schwarze Nachtfalter, die dünnen Beine in einen Himmel gereckt, den er nie mehr durchschwirren wird, die tausendmal abgewanderten Meter zwischen deinen zweieinhalb halbleeren Zimmern, in denen du kein Versteck vor dir findest, immer wieder haltlos vor dem Lavabo, versenkst deinen Blick im verschmutzten Abguss, wartest darauf, dass etwas von dir abfällt, eine Spannung sich löst, ein tonloses Dröhnen, zurück in die Küche, über dem Tisch die knittrige, historische Rom-Karte, Via di San Giovanni in Laterano ganz unten rechts, Porta Maggiore, und wie du schon beim ersten Mal darauf bestanden hast, den Fahrstuhl zu nehmen, hinter den schwarzen, staubgeschmückten Gittermaschen, das vollkommen geräuschlos aus uneinsehbaren Stockwerken herunterschwebende Stehzimmer, die holzgezimmerte Kabine, klackende Türflügel, alles edel, alles zum ewigen Anfassen, vor allem sie, zum ewigen Anschauen, aber das lässt sich nicht sagen, das lässt sich jetzt nicht einmal schreiben, im Nachtzug von Rom weg und beginnst schon einen Brief, draussen erst Roma Tiburtina und du schon über dem Papier, beginnst einen zweiten Brief, einen dritten, kommst nie über die Anrede hinaus. Das hat mit deiner Fahrtrichtung zu tun. Die der Fahrtrichtung eines Zuges entgegengesetzt gerichtete Zuschrift zählt zu den schwierigsten unter den ohnehin beinahe unmöglich gewordenen Liebesbriefen, ich nehme den Lift eigentlich nie, sagt sie beiläufig und zögert, funktioniert er nicht, fragst du verunsichert, aber schon schliesst sie die Tür, du kümmerst dich nicht um das Stockwerk, drückst einfach die Sieben, oberste Etage, schliesslich soll der erste Kuss an ihrer Adresse ein wenig dauern, eine stockwerkübergreifende Zungenumwindung, eine Zugsverstrickung, Treno Notte, Nachtzug nach Basilea, du scheiterst an der Leere hinter der Anrede, Marlen, schreibst du, Komma, während das der Fahrtrichtung entgegengesetzte Liebesschreiben als Verzweiflung gelten muss, so ist der mit der Fahrtrichtung verlaufende Liebesbrief nur eine Lächerlichkeit, erübrigt sich, jedenfalls meist und zu grossen Teilen, weil er ja doch nicht eher ankommt als der erste Kuss und dieser erste, egal wie sanft, abtastend, verunsichert er auch sein mag, wie unselbständig ohne einen zweiten und dritten, egal, jeder erste Kuss verheert und verschandelt einen mitgebrachten Brief, verkleinert ihn zu einem Mitbringsel, das angesichts des Kusses nur umständlich, künstlich und peinlich wirken kann, eine verschriftlichte Begehrensversicherung, die du aus dem Fenster des fahrenden Zuges in die vorbeipeitschende Nacht entlässt, Marlen, Komma, und weg, die Strecke, die gesamte Schottertrasse zwischen Basel und Rom wird bald gesäumt sein mit diesen zu keinem Ende gekommenen Briefen, und nun wieder Kleinbasel hinter dem schweren, niederen Fluss, die sich gegen den Strom mühenden Frachtschiffe, und hinten, in deinem Innenhof, der Steinmetz, die Sicht auf den Umschlagsplatz der Grabsteine, dass einer fehlt, erkennst du am Rechteck aus Steinstaub, das bleibt, mit deinem Tod möchtest du niemandem zur Last fallen, auch dem Steinmetz nicht, diesem schnauzbärtigen Handwerker, den du jüngst dabei beobachtet, ertappt hast, wie er an einem Frauentorso arbeitete, wie er seine Brotarbeit, die Grabsteine, beiseite liess und sich um einen Frauentorso kümmerte, ein weiblicher Körper, inmitten von unbearbeiteten, aber deutlich schon Grabsteinform aufweisenden Steinen nimmt sich die Dame äusserst verwegen und lebendig aus, fleischlich, wenn denn für dich und deinen Tod ein Grabstein her müsste, so vielleicht einen Frauentorso, überlegst du, aber jede Vorstellung von einem Grab ohnehin unmöglich, es ist nicht das Grab an und für sich, sondern seine Schwere, dass es sich nicht bewegt, nur lastet, überall dort willst du begraben werden, wo du warst und noch sein wirst, anstelle eines massigen Grabsteines auf einem eingezäunten Gottesacker, von dem sogar die arglosen Krähen verscheucht werden, willst du für jeden deiner Grabstätten einen kleinen Kieselstein, deine Initialen fein eingeritzt, und überall hin dann diese Steine verstreut, so fein die Buchstaben, dass bald Wind und Wetter die Gravur weggewischt haben und der Kiesel unbelastet von deinem Tod weiter tun kann, wozu er gut ist, dein Idealbild vom Tod, vom Wegsterben, ein beiläufiges Verscharrtwerden auf einer halbschattigen Brache, für die sich kein Landwirt je interessiert, wo der Jäger nicht pirscht, kein Hund schnüffelt, nur Rotwild, im äussersten Fall, das versonnen am Waldsaum steht und in die Dämmerung blickt.


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Marcus Jensen

Grün und Blau

Neben meinem Stuhl warten sie in langer Reihe, legen ihre Schwänze auf die Vorderpfoten wie kleine Pelzmuffe, es ist noch früh. Alle haben sich den ganzen Tag frei genommen, nicht nur die von der Müllhalde oder die aus den feuchten Hinterhöfen, auch welche aus der Vorstadt, aus den feinsten Gegenden, gekämmte, einige mit Schleifchen, sogar solche, die noch nie eine Wohnung verlassen haben, sind heute ausgerissen, stehen ängstlich zwischen den anderen und schauen sich um. Der weite graue Parkplatz, den sie höchstens von ihren Fenstern aus sehen konnten, so ist er also wirklich, hart und kalt, aber sie haben es gewollt. Die anderen trösten sie und kneifen beruhigend die Augen zu: Es ist ja für alle das erste Mal. Ich schaue auf die Uhr: Bald öffnen die Geschäfte. Drei Somalis starren sprungfertig auf die Stuhlkante, eine Perserin findet noch Staub auf ihrer Flanke und leckt schnell darüber, Kurzhaarige zucken nervös mit den Ohren, nur die Siamesinnen bleiben völlig bewegungslos, schliessen nicht einmal die Augen. Dann öffne ich die beiden Metalleimer. Die Deckel lösen sich mit einem Knacken, auf den Innenseiten glänzen Grün und Blau, ich schleudere sie weit über den Parkplatz, scheppernd schlagen sie auf den Asphalt. Alle schauen, was ich mit den Eimern mache. Ich stelle sie neben meine Füsse und nehme zwei Tapezierpinsel, breit wie meine Hände, um die Eimer durchzurühren. Es geht schnell, die Farbe ist dünn und geschmeidig, die Haarpinsel saugen sich voll im sattesten Ton, tropfend hebe ich sie hoch und zeige sie allen. Was für Grün und Blau!
Sie reissen die Augen auf, manche öffnen ihre Mäuler, aber es darf nicht einen Laut geben, sofort kreuze ich die Pinsel übereinander, und alle bleiben ruhig. Mit dem Grün zeige ich auf die Reihe, und der erste ist ein dicker Getigerter, der kaum die Kraft findet hochzuspringen. Seine Flanken zittern, er zögert, sein Blick fährt auf und ab zwischen dem Boden und der Stuhlkante. Aber ein Grün soll er werden. Er spannt seine schlaffen Muskeln, erinnert sich an bessere Zeiten und springt auf meinen Schoss. Er schnuppert am Pinsel. Grün für ihn. Der Getigerte kneift die Augen zusammen und streckt sich aus, gibt mir seinen gesprenkelten Bauch hin. Der weisse Latz, die schwarzen Ballen, das feine Streifenmuster seines Fells - früher liess er sich dafür bewundern. Jetzt erwartet er den Pinsel, und die Blicke der anderen richten sich auf die von Grün tropfenden Borsten, ich drücke die Farbe auf das Fell des Getigerten, sie zieht tief in seine Haare ein, mit zwei Strichen ist sein Bauch in Grün, er hebt einzeln die Pfoten, jedes Bein zwei kurze, satte Striche, der Getigerte wälzt sich mühsam herum, zieht die Beine an und verzichtet auf seine Tigerung.
Ein paar Pinselschwenke, Streichelungen in Grün, bis zu den Ohrenspitzen. Er hebt das Kinn, und mit dem letzten Tupfer werden Kehle und Wangen fertig. Sanft schiebe ich sein Hinterteil von mir, und er springt vom Schoss, als hätte er sein Gewicht vergessen. Noch einmal dreht er sich um zu den anderen, reckt den Kopf in die Höhe und rennt dann über den Parkplatz, der Grüne läuft zum Supermarkt.
Die Perserin wartet gar nicht erst, nimmt kurz Anlauf und landet auf meinem Schoss, ein wenig Grün färbt noch auf sie ab, aber schon nehme ich den anderen Pinsel, tauche ihn ins Blau und bestreiche ihre langen Zotten. Die Perserin rekelt sich dem Pinsel entgegen, dreht sich und hebt ihre Beine, als sei sie es selbst, die sich in Blau malt, und nicht ich. Kaum ist sie fertig, leckt sie sich die Pfoten, aber das Blau bleibt, sie kratzt sich hinter einem Ohr, ihr Blau bleibt. Da streckt sie ihren Blauschwanz in die Höhe, zeigt allen anderen ihr Hinterteil, und wieder reissen einige ihre Mäuler auf, dass ich ihnen drohen muss. Aber die Perserin hat sich genug gezeigt, sie huscht vom Schoss und stolziert über den Parkplatz, verschwindet hinter einer Plakatwand, diese Blaue nimmt den Weg zur Fussgängerzone. Eine Kurzhaarige springt jetzt auf, und ich wechsle die Pinsel, sie wird zweifarbig leuchten, immer schneller geht es in Grün und Blau, denn alle haben zugesehen und wissen, wie sie sich drehen und bewegen müssen, und bald sind mehrere Dutzend fertig, sie laufen in alle Richtungen, sie werden durch die ganze Stadt streunen, in die Geschäfte gehen, über Regale balancieren, sich vor Umkleidespiegel setzen oder einfach die ungläubigen Blicke geniessen.
Als die Farbe verbraucht ist, stehe ich auf und werfe die Pinsel von mir. Nur wenige bleiben sitzen. Es ist Mittagszeit. Ich schaue noch einmal über den Platz und bin zufrieden. Heute werden sie werben für Grün und Blau, und was morgen ist, sehe ich an den anderen: Langsam löst sich die Reihe auf, und sie trotten zurück in die Hinterhöfe, in die Etagenwohnungen, in die Vorstädte. Auch ich gehe wieder. Meinen Stuhl nehme ich mit, die leeren Eimer lasse ich stehen.


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Wanda Schmid

Sie ...
Textfragmente

Sie hatte ihre Lieblingsworte – Apfel und Sims. Das war 1999 – da waren das ihre Lieblingsworte. Apfel und Sims.
Über tote Sprachen sprach sie nie. Das wäre gegen die Regel gewesen. Sie sprach von Zeit zu Zeit und fächelte Luft.
Winters blinzelte sie in den Schnee und fror. Schauderte.
Die Jahrtausendwende zersplitterte ihr linkes Auge – die Herzschnüre verkohlten. Aber ein Handrücken und ein Innenohr und ein Körper – das blieb. Und Luft gab es genügend und Bleistifte und Eisbrecher und Fleischschauer und sommers Hitzetage.
Sie war beim Kürschner mit ihrem Fell. Haarnadeln und Ironie schreckten sie nicht _ auch der Spiegel nicht. Kaltblütig ging sie bei Rot über die Strasse. Vorsicht kannte sie nicht, nicht bei Farben. Nachtgrau erschreckte sie, mitunter auch das Morgengrauen. Und Schwarz bestürzte sie und sichtbare Leere. Sie hatte ein Recht verletzlich zu sein und sich vom Wachmann grüssen zu lassen, auf Schnee zu warten und zu fauchen.
Sie küsste den Grashalm, zerschnitt sich damit die Lippen und vergrub es bis aufs Blut und ging auf Zehenspitzen auf mich zu, obwohl ich nicht dort war, wo sie ging.
Sprich von Zeit zu Zeit und fächle mit Luft!
Und an ihrem Ohr flüstert es.
Versprich nichts – lebe!
Jetzt legt sie ihre freie Hand in die Mulde.
Schmiegt ihre Finger aneinander.
Sie streiten um Wärme.
Die feuchte Haut und das widerspenstige Haar und Zähne, die klirren.
Und das grüne Auge ist aufgefüllt mit Staunen.
Und das restliche Gesicht überwältigend schön.
Aber der offene Mund und die Kälte und die kleine Dampfwolke weisen auf den Atem hin, der hier geatmet wird.
Atme, atme und tu nicht nur so!


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